Der Gedanke, die Linie aus dem Papier „herauszuholen“, sie körperhaft werden zu lassen, Linienkörper zu bilden, geht dieser Arbeit „Linienkörper“ voraus.
Diese entsprechen formal den auf dem Papier gezogenen, scheinbar parallel laufenden, leicht geschwungenen, schmalen, mäandernden, rhythmisierenden, weichen, harten
und tief in das Papier eingegrabenen Grafitspuren, Silikonbändern oder Tuscherinnsalen. Ebenso wie die gezeichneten Linien hat jeder Linienkörper eine eigene Form. Mit der Hand geformt, nie gleich, unterliegt er nicht nur einem mechanischen Prozess sondern auch der Befindlichkeit dessen, der formt, so wie jeder Tag ein anderer ist. Die objekthaften Körper sind biegsam, innen stabil, fragil, auch labil. Dies erlaubt in der Horizontalen nur eine Legung und in der Vertikalen ist Anlehnung notwendig. Durch den Präsentationsraum, das Forum II, mit seiner Treppe mit Richtungswechsel, ist die Arbeit über vier Ebenen vom Außenraum zum Innenraum so angeordnet, dass man diese nicht in allen Teilen gleichzeitig sehen kann. Für den gesamten Linienkörper, bestehend aus ca. 3000 einzelnen Teilen wird die Architektur zur Bildfläche, die Treppe dient der Scheinvertikalen, die Räume werden zum Rahmen und umgekehrt breitet sich der Linienkörper aus und wird zum bestimmenden Raumelement. Er begleitet, liegt z.T. im Weg, ist somit Hürde, dann umschließt er den Betrachter, öffnet sich aber erneut. Angelehnt an Treppen, Boden und Wände steht die Arbeit in einem äußeren und nicht nur räumlichen Zusammenhang, der den Betrachter befragt.
Da jede einzelne Linie ihre eigene Form hat – sie ist gebogen, eingebuchtet, flach und, je nach Lichteinfall, in der Farbe schwarz, adäquat zur Grafitlinie grau bis schwarz – erzeugt die Anordnung der Einzelteile in dem „Linienkörper“ den Zustand oder die Imagination von Schweben im Gegensatz zu Figur und Sockel. Offen ist die Frage, warum der Blick woran hängen bleibt, geht er vom Einzelnen zum Ganzen und zurück? Welche Fragen stellt der Betrachter, die Menschen, die hier arbeiten, im Rahmen der Rezeption der Arbeit? Für mich bleibt, ob der Betrachter die Frage, sich erinnernd, das, was er gesehen hat, neu verknüpft und die Arbeit somit neu entstehen lässt. Wird er das Sichtbare befragen, das Unsichtbare durch die eigene Vorstellungskraft als fragwürdig weiterdenken? Welche Richtung ist zu gehen? Kann der zeitliche Aspekt der Entstehung der Arbeit durch die Schichtung an Erinnerung denken lassen, kann sie durch Veränderung „Zeichen für Leben“ sein, können die Linien Stillstand und Bewegung ausdrücken, Grenze und Verbindung sein?
Meine plastischen Linien, die auch „Mirbel“ heißen, eine Wortschöpfung, die mir David Jacobs, ein 11jähriger Junge geschenkt hat, sind vorläufig in der gegenwärtigen Arbeit manifestiert.
Linienkörper
ca. 3000 Mirbel, 60cm bis 2,20m lang, Draht, Papier, Kleister, Farbe, Rauminstallation über vier Ebenen, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Forum 2, Mainz, 2004
Fotos: Tanja Labs